Dat ero ni uuas noh ufhimil

Dat ero ni uuas noh ufhimil

Liebe Erde!

Am 23. Oktober, hast Du Geburtstag – ich erinnere an meinen Beitrag vom vergangenen Jahr. Aus diesem Grund heute ein Glückwunschschreiben.

Wir können uns glücklich schätzen, dass wir es als Menschen in unserer kulturellen Entwicklung geschafft haben, in abstrakten Begriffen und Gedanken die Welt zu beschreiben. Trotz der Wucht althochdeutscher Sprache war es den Menschendes des 9. Jahrhunderts noch nicht möglich, diesen Abstraktionsgrad zu erreichen. Ganz zu schweigen von den fehlenden wissenschaftlichen Erkenntnissen.

Vieles an Wissen aus der Antike ging verloren. Die Folgen der Völkerwanderung, der Niedergang Roms, die lange Geschichte Germaniens vom fränkischen Reich bis zum Erstarken des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation – all das war (noch) nicht der Nährboden weder für fundierte Wissenschaften, noch für intellektuelle Literatur. Erst die Mystiker des späten Mittelalters vollbrachten diese sprachliche Leistung.

Um so mehr ist es erstaunlich, eines der ältesten deutschsprachigen Gebete des Christentums aus dem Jahre 790 in den Blick zu nehmen. Es handelt sich um das Wessobrunner Schöpfungsgedicht.

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Ergriffen von der Schönheit der Schöpfung, dem Staunen über die Natur und der Frage nach deren Anbeginn (Dat ero ni uuas noh ufhimil – Dass die Erde nicht war, noch der Himmel über ihr), ließ sich der Autor dazu hinreißen, diese Eindrücke mit ganz konkreten Bildern sehr poetisch auszudrücken:

„Das erfuhr ich unter den Menschen als der Wunder größtes,
Dass die Erde nicht war, noch der Himmel über ihr,
Noch Baum noch Berg,
Noch […] irgend etwas, noch die Sonne nicht schien,
Noch der Mond nicht leuchtete, noch das herrliche Meer.

Als da nichts war von Enden und Grenzen,
da war der eine allmächtige Gott, der Wesen gnädigstes,
da waren auch viele göttliche Geister mit ihm.
Und der heilige Gott.“

Der Verfasser beschreibt die Erfahrung eines fast mystischen Moments, angesichts der Schöpfung auf der Suche zu sein nach einer Antwort auf die Frage nach deren Ursprung, dem Wesen und dem Sinn allen Seins (42?). Als gläubiger Mensch ist für ihn klar: Da war schon Gott. Ebenfalls klar für ihn, dass er auf diese dem Staunen entspringende Erkenntnis nur mit einem Gebet antworten kann. Vielleicht hat er auch die Frage gestellt, was Gott denn vor der Schöpfung getan hatte. Augustinus hätte dazu gesagt, dass Gott damals die Hölle geschaffen hat für Menschen, die solche Fragen stellen.

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Wir sehen das heute nüchterner. Die Physik erreicht die Grenzen der Erkenntnis, die großartigen Experimente bringen uns bis auf die unterste Ebene der Feinstruktur der Materie, wir nähern uns theoretisch dem Urknall bis auf ein paar Mikrosekunden. Der Erkenntnisgewinn wirft immer weitere spannende Fragen auf. Was für ein Glück, was für eine Bereicherung, den Wundern der Natur immer weiter auf die Spur zu kommen – und wir sind noch lange nicht am Ende.

Die Naturwissenschaft kann wesensmäßig keine theologische Antwort auf die Frage nach dem Warum geben. Genauso wenig, wie die Theologie keine naturwissenschaftliche Antwort auf die Frage nach dem Wie geben kann.

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Großartig finde ich es aber, wenn beide sich treffen: Im forschenden Ergründen dessen, was die Welt im Innersten zusammenhält, und die Fähigkeit des Staunens über die quasi wunderbare Erkenntnis der Ästhetik und des sich nicht selbst verdankenden Seins im Großen wie im Kleinen.

Johannes Kepler, der große Wegbereiter moderner Astrophysik schlechthin, hat bei seinen Beobachtungen, Berechnungen und naturgesetzlichen Erkenntnissen dieses Staunen nicht verloren. Er hat erkannt, dass die Gesetze der Natur nur deshalb zu erkennen sind, weil die Schöpfung alle Eigenschaften hat, die dem Beobachter dieses Leben und Erkennen erst ermöglichen. Wäre die Natur der Welt nicht so, gäbe es auch keinen Beobachter, keine Erkenntnis, keinen Autor des Wessobrunner Gedichtes und auch keinen Johannes Kepler.

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So fasst er naturwissenschaftliche Erkenntnis und Glauben wunderbar zusammen, wenn er 1619 in seiner Schrift Harmonices mundi anlässlich der Entdeckung seines dritten Gesetzes zur Himmelsmechanik schreibt: „Ich fühle mich von einer unaussprechlichen Verzückung ergriffen ob des göttlichen Schauspiels der himmlischen Harmonie. Denn wir sehen hier, wie Gott gleich einem menschlichen Baumeister, der Ordnung und Regel gemäß, an die Grundlegung der Welt herangetreten ist.“ Und Pater Theilhard de Chardin bringt es auf den Punkt: „Gott hat die Welt so gemacht, dass sie sich selbst machen kann.“

Und wir heute? Wir sind zu den wunderbarsten Erkenntnissen gelangt: Kommunikation in Lichtgeschwindigkeit um den ganzen Globus herum, Daten der Voyager-Sonden von jenseits der Grenzen des Sonnensystems, Graviationswellen aus anderen Galaxien mit einer Messgenauigkeit eines 1000stel des Protonendurchmessers, Visualisierung eines Schwarzen Loches in M87 aus einer Entfernung von 55 Mio Lichtjahren.

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Im gleichen Maße betreiben wir Raubbau an unserem Planeten. Wir setzen in kürzester Zeit Kohlenstoff frei, der über Jahrmillionen abgelagert wurde. Wir schaffen Waffen, die das Feuer der Sonne auf die Erde bringen. Wir spalten Atome, nur um Wasser zu erhitzen und nehmen dabei Abfall in Kauf, der hunderttausende von Jahren tödlich ist, der vergraben oder ins Meer geleitet wird.

Ich weiß auch keinen Ausweg aus dieser Ambivalenz. Aber ich bin fest davon überzeugt, dass dieses Universum, und erst recht unser Planet so großartig, wunderbar, einzigartig und staunenswert ist, dass wir alle dazu beitragen müssen, ihn zu erhalten. Die Erde braucht uns nicht, aber wir brauchen sie.

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Deshalb kann man mit gutem Gewissen auch den Schluss des Weesobrunner Schöpfungsgebetes noch zitieren:

„Gott, Allmächtiger, der Du Himmel und Erde erschaffen hast und den Menschen so viele gute Gaben gegeben hast, gib mir in Deiner Gnade rechten Glauben und guten Willen, Weisheit und Klugheit und Kraft, dem Teufel zu widerstehen, und das Böse zu meiden und Deinen Willen zu verwirklichen.“

Liebe Erde! Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag und gute Besserung!

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