Kaum jemand hat von Goethes Faust den zweiten Teil gelesen – zugegeben: er ist auch nicht einfach zu verstehen. Aber das Ende dieses Epos, das auch von Gustav Mahler in seiner 8. Symphonie großartig vertont wurde, führt einen bemerkenswerten Satz vor Augen: „Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis“ (V. 12104f.). Die Blühte der Passionsblume ist ein äußerst passendes Beispiel dafür.
Nicht nur am Valentinstag verschenkt man gerne Blumen – auch zu anderen Anläsen bieten sich diese floralen Geschenke an. Dabei achtet man natürlich auch auf den Symbolgehalt der Pflanzen. Rosen sprechen ja bekanntlich schon für sich selbst, und niemand verschenkt gerne einen Kaktus.
Eine der exotischsten Blüten hat die Passionsblume. Sie kommt in den tropischen und subtropischen Regionen unserer Erde vor. Ihre Früchte gelten als schmackhaft und enthalten viel Vitamin C und D12, sowie Spurenelemente von Calcium und Eisen.
Doch vor der Frucht liegt die Blüte, die auf alle Betrachter gleichermaßen Faszination ausübt. Menschen haben immer stets ihren je eigenen kulturellen Hintergrund dazu genutzt, ihre Umwelt zu deuten, ihr einen symbolischen Charakter zu verleihen. Die Natur ist gleichsam die Leinwand, auf der Menschen ihre Lebensdeutungen, ihren Glauben oder Strukturen zu erkennen glauben. Selbst die Sternbilder können davon eine Geschichte erzählen.
Gleiches gilt insbesondere für die Blüte der Passionsblume, die den europäischen Missionaren wie von selbst und sehr anschaulich ihre symbolische Deutung angeboten hat. Nicht von ungefähr hat sie ja auch ihren Namen aus dem Umfeld der Leidensgeschichte Jesu (Passion) erhalten, und weniger in der Bedeutung von Leidenschaft.
Bereits bei der Ausbildung des Blütenknotens haben Christen sich an den Kelch des letzten Abendmahles erinnert gefühlt. Andere sahen darin den mit Essig und Wein getränkten Schwamm, den die Soldaten Jesus am Kreuz reichten.
Beim Erblühen der Pflanze entfaltet sich dann buchstäblich ihre ganze Pracht.

10 Blütenblätter umhüllen zunächst das fragile Innere der Knospe, denen man die Bedeutung der 12 Apostel zubilligte. Allerdings: Ohne den Verräter Judas und den Leugner Petrus – daher die Zahl 10.
Öffnet sich die Blüte, bilden diese Blütenblätter den Rahmen für einen getüpfelten, sogenannten Nektarienkranz, der augenfällig an eine Dornenkrone erinnert.
Im Inneren zeigen sich dann die fünf (männlichen) Staubblätter mit den Pollen. Ihnen weist man die Bedeutung der fünf Wunden Jesu zu, währen die drei (weiblichen) Narben an die drei Nägel erinnern sollen.
Da es sich um eine Rankenpflanze handelt, werden den Sprossranken als die Geißel Jesu gedeutet. Auch die Blätter der Pflanze erinnern an die Lanze, die Jesus in die Seite gestoßen wurde.
Die Passionsblume ist sozusagen Gleichnis der Leidenswerkzeuge Jesu. Ob der Chorus Mysticus im Faust II genau daran gedacht hat, weiß ich nicht. Aber was die Vergänglichkeit betrifft, gibt es wohl kaum ein passenderes Symbol. So schön die Blüte auch ist, so wunderbar sie erscheint und so gerne man sich auch längere Zeit daran erfreuen möchte – sie entfaltet sich dem Betrachter nur für einen einzigen Tag. Im Morgentau öffnet sie sich zügig hin zu den ersten Sonnenstrahlen, folgt im Tagesverlauf dem Schein unseres Zentralgestirns, bis sie sich in der Dämmerung wieder langsam schließt – nur, um dann des Nachts unbemerkt wieder abzufallen. In Ihrer Zerbrechlichkeit offenbart sie dem Bewunderer ihre Schönheit und Esthetik für nur wenige Stunden, bevor sie wieder zu Boden fällt und in den großen Kreislauf zurückkehrt.
Eigentlich ein trauriges Geschehen, dass dieses kleine Wunder von nur so kurzer Dauer ist. Aber: So, wie die Blüte nur an einem Tag erblüht und vergeht, so nimmt die nächste Blüte am darauffolgenden Tag ihren Platz ein, und der Zauber beginnt von neuem.
Ich weiß nicht, was der Autor des Buches Kohelet im Alten Testament vor Augen hatte. Aber wenn er davon spricht, dass alles seine Zeit hat – auch das Blühen und Vergehen (Koh 3,2) – wird er vielleicht die Passionsblume vor Augen gehabt haben, wenn auch nicht mit ihrer christlichen Deutung.
Die Fastenzeit ist eine gute Zeit, sich mit dem Leben auseinanderzusetzen – gleichsam einen Schritt zurück zu treten und das große Ganze in den Blick zu nehmen. Dazu gehört auch das Vergehen. Tod und Sterben spielen nicht nur am Karfreitag eine existenzielle Rolle, genau so wenig, wie die Hoffnung des Ostertages auf ein ewiges Leben aus dem Blick geraten soll. Das Leiden und Sterben Jesu war kein Selbstzweck, sondern sowohl logische Konsequenz seines Auftretens als auch Durchgang (Pascha) zur Auferstehung. Insofern ist das Vergängliche einer Passionsblume ein Gleichnis für die christliche Deutung des Lebens. Im großen Kreislauf der Natur von Werden und Vergehen schafft Gott einen Break, ein Innehalten und Neugestalten. Nicht nur in Bezug auf die menschliche Existenz, sondern auch ausgedehnt auf die ganze Schöpfung (Röm 8, 18-25), die sich gleichfalls nach Erlösung sehnt.
Das Leben geht eben weiter, es findet immer seinen Weg. Und Gott erhebt die Schöpfung und den Menschen trotz des Todes auf eine neue Ebene. Er verwandelt den Tod und stellt den paradiesischen Zustand wieder her – schon im Jetzt, aber eben noch nicht ganz. Ein temporaler Vorbehalt bleibt noch – und in dieser Zeit bietet das Leben bereits großartige Wunder als Vorgeschmack auf das Kommende.
Es ist schon paradox, dass das Sterben zum Schlüssel wird für Gottes Plan, aus dem Dunkel des Grabes neues Leben wachsen zu lassen. Nur so lässt sich glauben, dass im Tod das Leben, im Sterben die Auferstehung liegt.

Wer Glück hat, der kann sogar erleben, wie aus der Vergänglichkeit einer Eintagsblüte sogar eine Frucht entsteht. Aber die kleinen Wunder des Lebens sind nicht machbar. Sie entziehen sich unserem Tun. Und staunend können wir die Natur als Gleichnis verstehen, wie in der Vergänglichkeit der Schöpfung das Leben stets als Sieger hervorgeht.