„Du bist meine Zuversicht“ (Ps 71,5)

Ernst Alt, „In Memoriam B.L. 1991“

Wir wissen nicht, ob der alttestamentarische Tobias, sein Vater Tobit und dessen Verwandte Sara den Psalm 71 damals vor Augen hatten. Für den Erzengel Raphael wäre es sicher nachvollziehbar gewesen, was Bischof Dr. Stephan Ackermann (Trier) zur Eröffnung der Heilig Rock Tage 2021 über das diesjährige Motto („Du bist meine Zuversicht“ Ps 71,5) in seiner Predigt ausdrückte: „Zuversicht – das bedeutet: gut versehen, im Sinne von ausgestattet, ausgerüstet sein. Mit Gott bin ich gut ausgerüstet für mein Leben, mit ihm kann ich mein Leben bestehen. Er ist mir Ausrüstung und Kraft für mein Leben. Und noch mehr – er gibt sie mir nicht nur, er selbst ist meine Zuversicht“. Doch dazu später mehr.

Bischof Dr. Stephan Ackermann, Trierer Dom

Ernst Alt, ein saarländischer Künstler (+2013), gestaltete im Zeitraum von 1980 bis 2006 die Kirchenfenster der St. Ludwig Kirche in Saarlouis, Saarland. Im Turm der Kirche ist die Taufkapelle. Dort findet sich jenes Fenster, das Raphael mit Tobias darstellt.

Das Buch Tobit erzählt im Alten Testament die Geschichte des jungen Tobias und seines Vaters Tobit, die um das Jahr 722 v. Chr. im Exil des assyrischen Reiches gelebt haben sollen. Tobit leidet an Leib und Seele. Er erblindet durch den Eintrag von Vogelkot in seine Augen. Seine entfernte Verwandte, Sara, ist von einem Dämon besessen, was für all ihre Verlobten immer tödlich endete. Beide haben den Mut verloren, erhoffen nichts mehr vom Leben und ersehnen sich nur noch den Tod.

Zuvor bittet der Vater seinen Sohn Tobias, noch ausstehende geschäftliche Dinge zu regeln. Gleichzeitig ermahnt er ihn zu einem rechtschaffenden Leben und stellt ihm einen Reisebegleiter zur Seite mit Namen Asarias – eigentlich der Erzengel Raphael, der sich aber erst am Ende der Reise zu erkennen gibt.

Beim Baden im Fluss wird Tobias durch dessen Hilfe vor einem großen Fisch errettet. Anschließend erklärt Raphael die heilende Wirkung von Fischgalle, -herz und -leber. Mit diesem medizinischen Wissen gelingt es Tobias, sowohl seinem Vater das Augenlicht wieder zu schenken als auch Sara zu heilen und glücklich zur Frau zu nehmen. Erst dann klärt Raphael auf: „Ich bin Raphael, einer von den sieben heiligen Engeln, die die Gebete der Heiligen darbringen und zu der Majestät des „Heiligen“ Zutritt haben. … Friede wird euch zuteil werden! … Nach dem Willen Gottes kam ich zu euch; daher preiset ihn immerdar!“ (Tobit 12, 15-18)

Begeben wir uns aber aus der alttestamentlichen Zeit in das Jetzt und durchschreiten beim Betreten von St. Ludwig die Taufkapelle im Eingangsbereich der Kirche. Dort erblickt man jenes  Kirchenfenster mit dem Titel: „In Memoriam B.L. 17.11.1991“ – eine Remineszenz an den langjährigen 1991 verstorbenen Lebenspartner des Künstlers, Bernhard Lieblang.

Raphael beherrscht die Szene, auch wenn man nur seinen Oberkörper sieht. Der deutlich Jüngere schaut zu ihm auf: Wie ein vertrauendes Kind zu seinem älteren Bruder oder Freund. Wie sich beide Blicke treffen zeugt bereits von dem Vertrauensverhältnis, das beide auszeichnet. Raphael alias Asarias, und Tobias der Geschäftsreisende im Auftrag seines Vaters, kennen und vertrauen sich.

Vorangegangen sind wohl lange Gespräche auf der Reise, sowie abendliche Gedanken bei der Rast. Die im Bild erfasste Momentaufnahme fußt auf einer Geschichte, die beide bereits miteinander haben, die ihren Höhepunkt findet in der Errettung des Jüngeren durch den Älteren.

Nicht nur das dominierende Blau – die Farbe des ewig Unendlichen, aber auch der Wahrhaftigkeit, sowie des Wassers – verweist auf das Kommende. Denn das Wasser ist durchaus ambivalent. Es spendet Leben, sichert Überleben und reinigt. Aber für die Menschen des Alten Testamentes verbarg sich unter dessen Oberfläche das Böse, Bedrohliche und Lebensfeindliche, Unerwartete, ja der Tod selbst. Diese Erfahrung macht Tobias, als er von einem gewaltigen Fisch verschlungen zu werden droht. Raphael rettet ihm das Leben. Nachsicht spiegelt sich in seinem Gesicht, behütend liegt sein Arm auf den Schultern seines jungen Freundes, dessen dunkle Augen dennoch Dankbarkeit und Erleichterung nach dem Schrecken ausstrahlen und den Blick des Retters suchen. Was wir er wohl gedacht haben?

Raphaels scheinbare Haarpracht sticht hervor in Form und Farbe. Das Violett der Oliven und das Grün der Blätter ist unübersehbar. Der Sieger beim antiken Wettkampf, der Imperator der Römer, der erfolgreiche Feldherr – sie alle wurden begrenzt mit dem Olivenzweig als Zeichen des Sieges, des Friedens und der Fruchtbarkeit. Schließlich endet die Geschichte ja mit der Hochzeit von Tobias und Sara. Aber mehr noch: Raphael bringt Frieden in das bewegte Leben des jungen Tobias. Er kann sich – versehen mit einem solchen Begleiter – getröstet und abgesichert weiter auf den Weg machen, auch wenn Tobias von den Wogen des Lebens umschlungen, vielleicht sogar bedroht wird. Er schaut auf seinen Freund, und er erblickt die sieben Rosen, die das Haupt des Erzengels wie ein Spitzbogen umgeben. Tobias hat vielleicht so etwas wie eine Vorahnung, wer ihm hier gerade zur Seite steht – einer der sieben Engel Gottes; jener, der alles sieht und dem sogar die Engel gehorchen. Das Auge in der oberen Mitte schaut auf den Betrachter und lädt ein, sich dieser Szene hinzugeben. Alle genießen das Ansehen Gottes.

Der gewaltige Fisch ist die Trophäe des Geretteten. Selbst aus der größten Not geht er nicht mit leeren Händen hervor. Und dieses Trier entpuppt sich später sogar als Heilmittel. Keine Not ist so groß, dass sie unter Gottes Auge nicht sogar etwas Gutes hervorbringt. Trotzdem hat Tobias schwer an ihm zu tragen. Raphael greift nicht ein. Aber Tobias packt beherzt zu, selbst mitten in das bedrohliche Maul hinein. Seinen Mut hat er wiedergefunden. Der Engel aber lässt es zu, dass der Junge an seine Grenzen kommt und Kräfte findet, von denen er vorher selber nichts gewusst hatte. Ein weiser Lehrmeister …

Zwei Menschen – zwei Tiere. Unter dem Fisch hält sich der Hund bereit. Die aufgerichtete Rute zeigt von der wachen Aufmerksamkeit des Hundes. Nichts will er verpassen von dem, was zwischen Mensch und Engel an wunderbarem geschieht. Mit feiner Nase wittert er die Nähe Gottes in dieser besonderen Beziehung. Fast will er verstehen, was sich hier tut. Er spürt das Einvernehmen zwischen den beiden. So gefällt er sich in seiner Rolle. Ägypten und Griechenland kennen den Vierbeiner nicht nur als verspielten und wachenden Freund, sondern auch als Wegbegleiter sogar bis in die Abgründe ins Totenreichs. Er ist der treue Fährtensucher, der tierische Pfadfinder als Ergänzung zu unserem eingeschränktem Wesen, wenn wir mit unseren sieben Sinnen nicht mehr weiterwissen.

Aus gutem Grund schlängelt sich daher das Seil um seine Pfoten. Kein Stachelhalsband, kein einschneidender Strick, der die Luft abschnürt, sondern behutsam und leicht, im Zweifel auch rettend, aber ohne einzuengen: Halt und Freiheit zugleich.

Das Seil windet sich zum Labyrinth – nicht zum Irrgarten. Im Irrgarten verliert man sich – im Labyrinth findet man immer zur Mitte. Der Künstler greift eine alte christliche Symbolik auf und verbindet die Kreaturen der Schöpfung mit dem Menschen. Während Engel, Fisch und Hund quasi instinktiv immer sicher ihren Weg finden werden, wird der Mensch die Windungen, Umkehrungen, Turbulenzen und Rückläufigkeiten, Holz- und Abwege beschreiten müssen, die aber am Ende genau das abbilden, was wir sind: Menschen mit ganz eigenen, spannenden und abenteuerlichen Lebenswegen, die sich zusammensetzen aus den vielen Abschnitten menschlicher Erfahrung und Begegnung – das Scheitern nicht ausgeschlossen, aber am Ende zum Ziel führen werden.

Daher auch in der unteren Mitte ein florentinisches Bittgebet aus dem 15. Jahrhundert:

„Raphael medicinalis mecum sis perpetualis, sicut fuisti cum Tobia, semper mecum sis in via.“

„Heilender Sankt Raphael, bleibe du auf ewig bei mir, so wie du einst mit Tobias sei immer auf dem Weg mit mir.“

Rückblickend erkennt Tobias, wer ihm da zur Seite stand. In Raphael (hebr.: Gott heilt) war er gut ausgerüstet für seine Reise. Der Engel, und damit Gott selbst wurde seine Zuversicht.

Und heute? Ob immer alles gut wird wie bei Tobias, Tobit und Sara, mit Rettung, Heilung … – das weiß ich nicht. Heute hoffen dies Menschen um so mehr auf der ganzen Erde. Für viele endet es in einer gefühlten Katastrophe, andere verlieren die Hoffnung, wieder andere kommen nach langem Leiden wieder zu Kräften. Tobias hatte das Glück, mit seinem Begleiter reden zu können. Wir alle wünschen uns, wie Tobias zuversichtlich zu leben. Viele von uns aber müssen gerade heute das Schweigen Gottes aushalten. Und Bischof Ackermann sagt passend und aktuell dazu: „Man kann das Schweigen Gottes von Ostern her auch interpretieren als eine besondere Form der Solidarität (…). Gott gibt keine vorschnellen Antworten, da, wo sich vorschnelle Antworten verbieten“. Gott schweigt; aber er bleibt.

Er bleibt – wie Raphael. Er bleibt – wie Menschen an unserer Seite, die für uns zum Engel geworden sind. Gott bleibt, weil er keine andere Wahl hat. Mit seinem Sohn hat er sich ein für alle Mal festgelegt: Er ist Gott von Gott, ein Mensch wie wir, wie es in einem Lied von Silja Walter (1995) zu den Heilig Rock Tagen in Trier so passend heißt:

„Gott von Gott tritt stille in die Zeiten ein. Will in unser Leiden, unsern Tod sich kleiden, will wie wir ein Mensch auf Erden sein. Legt die Menschheit an als ein Gewandt, als die Sonne einst am tiefsten stand. Christi Kleid, ein Bild und Zeichen, dies Geheimnis zu vergleichen: Gott und Mensch, ganz ungeteilt.“

Wer auch immer als Engel an unserer Seite ist; welche Wogen uns auch durch das Labyrinth des Lebens spülen; welche Ungeheuer uns auch bedrohen mögen – selbst im Schweigen Gottes findet und spricht das suchende Herz die Worte des Psalms 71: „Denn du bist meine Hoffnung, Herr und Gott, meine Zuversicht von Jugend auf“.

© Bilder: mit freundlicher Genehmigung
von Christian Schu

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