Einstein, Buddha und TG8999

Einstein, Buddha und TG8999

Man wird im alltäglichen Flugplan von Thai Airways vergeblich nach Flugnummer TG8999 suchen. Denn dahinter versteckte sich ein außergewöhnliches Angebot. 99 Tempel in drei Stunden: „The Magical Flight“ – ein religiöser Overfly mit spirituellem Erfolgsversprechen inklusive außergewöhnlich energiebeladenem Geschenk.

Wir wissen seit Albert Einstein, dass die Beschreibung von verschiedenen Größen im Allgemeinen von dem Bezugssystem abhängt, aus dem man eine Beobachtung und seine Analyse durchführt. Das gilt nicht nur für die Physik. Ich wage heute die These, dass diese Theorie in analoger Weise auch im Religiösen anwendbar ist, insbesondere, wenn man einen Wechsel des Bezugssystems vollzieht.

Als Pfarrer der deutschsprachigen katholischen Gemeinde in Bangkok bewegt man sich naturgemäß im christlichen Bezugsrahmen. Aber Thailand lässt es nicht zu, sich der asiatischen Weltanschauung gänzlich zu entziehen. Das religiöse Alltagsleben ist geprägt von traditionellen Handlungen und virtuoser Volksfrömmigkeit, die zum großen Teil aus einem Synkretismus Buddhistischer Traditionen und Hinduistischem Erbe besteht. Die bunte Vielfalt religiöser Ausdruckshandlungen nimmt zum Teil sehr farbenfrohe und exotische Formen an und der Fantasie scheint keine Grenze gesetzt.

Grounding

Das betrifft nicht nur das Privatleben, sondern auch große Unternehmen. Thai Airways liegt de facto am Boden. Teile der Flotte wurden schon ans Militär verkauft, andere Flieger stehen ungenutzt am Heimathafen Suvarnabhumi in Reih und Glied auf dem Taxiway – ein trauriger Anblick. Viele Angestellte haben bereits ihren Job verloren. Piloten schauen sich nach anderen Anstellungsmöglichkeiten um. Vor jenem Hintergrund lässt sich verstehen, dass Thai Airways in einer äußerst schwierigen wirtschaftlichen Lage versucht hat, neue attraktive Formen des linieneigenen Angebotes zu erfinden. Special Dinner mit Thai Food vom eigenen Caterer oder eben neue Formen des Fliegens. Khun Trirot Sontitsani, Manager of Special Service Department erklärt dazu: „Außer Inlandsflügen haben wir unseren Kunden noch immer kein umfassendes Flugangebot machen können. Deshalb haben wir nach Initiativen gesucht, wenigstens lokal dieses Angebot wieder zu schaffen.“ Mit anderen Worten: Unter dem Zwang der ökonomischen Gründe die Not zu einer Tugend machen.

Religion sells

Das Management hat dabei einen Weg gefunden, sowohl die Lust am Fliegen, als auch wirtschaftliche Interessen mit religiösen Grundbedürfnissen zu kombinieren. Herausgekommen ist dabei der beispiellose und einzigartige sogenannte Magical Flight. Am 30. November 2020, in drei Stunden von Bangkok nach Bangkok, mit einer durchschnittlichen Reisehöhe von 6000m im Tiefflug über 99 Tempel in horizontaler Acht über Thailand. Das In-Flight-Entertainment bestehe diesmal nicht aus einem vielfältigen Movie-Angebot, sondern aus buddhistischen Gebeten und Gesängen, die niedrige Flughöhe sollte sowohl einen guten Ausblick bieten, als auch das Aufladen von Flieger und Fluggästen mit spiritueller Energie – doch dazu später noch mehr im Detail. Ein bisher nie dagewesenes Angebot.

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Die richtigen Trigger zur rechten Zeit in den sozialen Netzwerken veröffentlicht – und sofort war dieser Flug ausgebucht. „Wir haben full house“, führt Trirot weiter aus, „inklusive anderer internationaler Gäste wie zum Beispiel aus Japan, aber auch ein paar Katholiken sind dabei“ – die ich allerdings nicht ausfindig machen konnte im vollbesetzen A350-900. Religion sells!

Pre-Flight-Entertainment

Die Fluggesellschaft ließ es sich nicht nehmen, schon den Empfang und das Check-In erlebnisorientiert zu gestalten. Ein obligatorisches Foto mit ausgewählten Schönheiten der Crew, persönliche Begrüßung durch das Management von Thai Airways und unkomplizierter Kontakt zu inländischen Promis – ein Event, wie es der VIP-Bereich am internationalen Flughafen so noch nicht gesehen hat. Noch dazu unter den Kameralinsen und Mikrofonen mehrerer Radio- und Fernsehgesellschaften. Kein Wunder also, dass die 32 Business und 278 Economy Class Fluggäste sichtlich begeistert waren von der guten Stimmung bereits vor dem Abheben.

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Obwohl – zumindest eine Person doch mit einem weinenden Auge dabei stand. Khun Pantipa, seit 32 Jahre Angestellte beim Bodenpersonal der renommierten Thailändischen Fluglinie, hatte just an diesem 30. November 2020 ihren letzten Arbeitstag. Und trotzdem: Sie konnte sich dem Flair dieses Events nicht entziehen: „Ich gehe jetzt in den Ruhestand. Aber ich bin heute sehr glücklich, weil wir unsere Gäste glücklich machen können. Wissen Sie, Thai Airways ist loyal gegenüber seinen Kunden, auch gegenüber dem Buddhismus. Deshalb ist es eine gute Idee, zu fliegen und zu beten.“

„Fliege mit göttlichem Segen in den Himmel!“ steht daher passend auf dem überdimensionalem Begrüßungsplakat. Niemand denkt dabei an ein Unglück, sondern an diese spezielle religiöse Gebetserfahrung, die buchstäblich vom Boden abhebt. Bei meiner Frage, welcher Gott denn gemeint sei, gibt Khun Toey die weise Antwort: „Allein Du weißt, welcher Gott es ist.“ Eine typisch thailändisch-indifferente, aber ebenso liebenswürde Replik.

Dem Himmel so nah

Natürlich ist es interessant zu erfahren, welche Motivation die Fluggäste mitbringen. Alec aus Südafrika hat den Flug seiner Frau Khun Massaya geschenkt. Freudig erwartet sie das Boarding und gibt begeistert zu: „Das ist mein erstes Mal, so etwas zu erleben. Sonst braucht es einen ganzen Tag, um einen berühmten Tempel zu besuchen. Diesmal schaffen wir so viele innerhalb von drei Stunden.“ Khun Mayuree Absathorn, eine grazile Lady mittleren Alters sagt mir mit höflicher Zurückhaltung: „Ich möchte gerne bei diesem ersten Mal mit dabei sein, zusammen mit Ajan Katachinabanchon (Anm.: ein berühmter thailändisch-buddistischer Lehrer) und nahe dem Himmel beten.“

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Und tatsächlich – die meisten wollen dem Himmel nah sein und erhoffen sich durch Gebet und die Nähe zu so vielen Tempeln in kürzester Zeit ein großes Guthaben auf ihrem persönlichen Verdienst-Konto; sozusagen eine enorme Gutschrift, die bei der zukünftigen Wiedergeburt gewinnbringend eingelöst werden kann, um doch vielleicht eine höhere Wesensform zugesprochen zu bekommen.

Als Pfarrer sträubt sich da natürlich das theologische Empfinden. Obwohl vielen Christen dieses Gefühl nicht ganz fremd ist. Manche Wallfahrt wird genau mit diesem Grundgedanken angegangen: Die Bitte um Gesundheit, Glück, Wohlergehen, das Gedenken an die Verstorbenen, konkrete Wünsche nach sicherer Zukunft und Bewahrung vor dem Bösen. Wenn ich etwas investiere, dann bekomme ich es auch irgendwie wieder zurück. Insofern ist man da in guter interreligiöser Gesellschaft. Wobei die christliche Theologie eigentlich den Gedanken des Do-ut-des, also des Gebens und Wiederbekommens als solches weitgehendst und zurecht hinter sich gelassen hat.

Eine Frage der Perspektive

Es wäre zwar ein leichtes, nun über dieser Form der monetarisierten Religiösität unter Ausnutzung volksfrömmiger Bedürfnisbefriedigung den Stab zu brechen. Selbst Martin Luther hätte seine wahre Freude daran, gegen einen neu entdeckten quasi-Ablasshandel vorzugehen. Doch hüte man sich, aus der eigenen religiösen Sozialisierung und Glaubensgeschichte einer anderen Religion Vorhaltungen zu machen.

Hilfreich ist jener bereits angesprochene Wechsel des Bezugssystems. Versetze man sich in die Lage des thailändischen Buddhismus, der in all seinen Ausdrucksformen nach Selbsterlösung sucht und dabei alle Mittel nutzt, die gewinnbringend dem eigenen Tambun (Anm.: relig. Verdienst, Gewinn) Rechnung tragen, dann war dieser Magical Flight tatsächlich eine kongeniale Idee. Khun Tanaporn gibt zu: „Wenn wir beten, dann beten wir zunächst für uns, um Glück, Wohlstand, gute Beziehungen, Erfolg, Wohlergehen, Reichtum. Aber wir denken auch an die Verstorbenen der Familie, damit sie gut wiedergeboren werden können.“ Auf meine Frage, wer denn der Adressat der Gebete sei, bleibt sie jedoch die Antwort schuldig. Bei all dem geht es anscheinend zunächst um einen selbst.

Ja, der Wechsel in ein anderes Bezugssystem erfordert schon geistige Anstrengung, aber bei Gedankenexperimenten fällt es immer schwer, aus dem Bekannten heraus eine neue Perspektive einzunehmen. Mir bleibt dieser Ansatz durchaus fremd, aber verstehen kann ich schon, wie Menschen diese Chance für sich selber nutzen wollen, um mit einem guten Gefühl ihr religiös-spirituelles Leben zu führen.

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Während des südlichen Kurses über den wenig spektakulären Flug über den Golf von Bangkok Richtung Phuket wurde anstelle der kulinarischen Vielfältigkeit auf normalen Thai Airwas Flügen diesmal ein vegetarisches Menu serviert – blumig beschrieben mit den Vorteilen genau jener Nahrungsmittel und in der Tradition buddhistischer Mönche.

Glauben statt Wissen

Kurz darauf ergriff besagter Ajan Katachinabanchon das Wort und erklärte, welche Tempel nun überflogen würden. Leider erlaubt die Flughöhe nur ein Erahnen der prächtigen Bauwerke, aber die Gewissheit, nun dort zu sein, reicht den meisten, besonders denjenigen, die keinen Fensterplatz ergattern konnten. Zugleich stimmte er verschiedene Gebete und Gesänge an, wie man sie ansonsten nur aus den Tempeln kennt. Meine Frage, ob man denn auch verstehe, was da gebetet würde, beantwortet Khun Nattakarn Aneksak sehr überrascht: „Wir verstehen diese alte Sprache auch nicht. Wir wissen, dass es die Gebete gut mit uns meinen, und dass es zu unserem Glück dient. Mehr braucht man auch nicht zu wissen“, und ist überrascht über meinen offensichtlich verwunderten Gesichtsausdruck.

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Andächtig stimmen die Fluggäste über Hua Hin in ein gemeinsames Gebet mit ein. Hilfreich ist ein eigens zusammengestelltes Gebetbuch mit Liedern und frommen Texten, ergänzt durch ein liebevoll gefaltetes Textblatt mit den 38 wirkmächtigsten Segensgebeten, dazu noch eine Atemmaske im typischen Thai-Airways Stil, sowie ein Fläschchen mit Erfrischungswasser (oder Desinfektionsmittel oder Weihwasser?).

Devotionalien

Besondere Aufmerksamkeit erregte ein kurz vor dem Boarding persönlich überreichtes, ganz besonderes Geschenk, das gleich nach dem Flug auf dem Amulettmarkt Thailands bereits horrende Preise erzielte: Ein in Ton gebranntes Amulett, das einen auf dem Lotusthron sitzenden Buddha auf der Vorderseite zeigt, sowie rückseitig das Siegel des jetzigen, auch in Bayern sehr bekannten Königs Rama X. mit der Umschrift: „Wir feiern den (seinen) 60. Geburtstag“ – ein Amulett, das schon 8 Jahre alt ist und zu diesem besonderen Zweck nun an die Fluggäste verschenkt wurde.

Einstein, Buddha und TG8999

Laut Ankündigung wurde dieses glücksbringende Amulett durch die Gebete und Gesänge, aber in Sonderheit durch das Überfliegen der berühmten Tempel Thailands mit spiritueller Energie aufgeladen, so dass es den gewünschten Effekt für den Besitzer garantieren soll. Übrigens sollte diese Energie auch auf Fluggäste und den Flieger zugleich übergehen. Also wirklich ein magical flight im wahrsten Sinne des Wortes. Die persönlich ausgestellte Urkunde, die am Schluss noch überreicht wurde, garantiert offiziell die Teilnahme an dieser besonderen Wallfahrt und kann dementsprechend gewertet werden. Ob, wie und wo man diesen spirituellen Gutschein anrechnen kann, bleibt aber leider unbekannt.

Von Bangkok nach Bangkok

Der Höhepunkt des Fluges: in mittlerer Höhe über dem wolkenfreien Bangkok bei strahlendem Sonnenschein und dem diesmal fehlenden Smog – auch eine einmalige Perspektive, die es sich einzunehmen lohnte.

Im großen Bogen über berühmte Orte wie Ayutthaya und Sukhothai, die Höhenzüge von Phetchabun und des Khao Yai National Park setze der Flieger gegen Ende mit glücklichen Gästen und ebenso strahlenden Gesichtern zum Landeanflug an.

Thai hat zwar einen grandiosen Marketing-Coup gelandet, den Himmel versprochen und ihn auch mit technischer Hilfe erreicht. Aber alles andere, das sich sozusagen darüber befindet, liegt nun doch in der Hand des Gottes, dem man sich anvertraut und welchen Namen man ihm auch immer geben will. Für mich war dieser Name jedenfalls klar – ob mit oder ohne magisches Amulett.

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