Berlin-Heiligtum in Singapur
Wer eine christliche Wallfahrt machen will, der muss erst einmal wissen wohin. Das ist in Asien nicht so ganz einfach. Indien gibt einiges her, auch die Türkei. Ansonsten muss man hier im Fernen Osten noch auf ein Wunder warten, oder auf einen wundertätigen Heiligen, um den herum sich Wallfahrtsorte entwickeln.
Santiago de Compostela, Fatima, Medugorje, Lourdes uvm., das sind Namen von Wallfahrtsorten in Europa, die katholische Ohren zum Klingen bringen. Liegen sie doch alle in mehr oder weniger großer Erreichbarkeit europäischer Christen, die sich gerne zu Wasser, zu Lande oder in der Luft auf den Weg machen, einen dieser bedeutenden Orte mit großen Namen zu besuchen – zum Beten, zur Selbstfindung, zur Meditation, oder sei es nur aus touristischem Interesse. Wie gesagt: Asien ist nicht gerade gesegnet mit solch prominenten christlichen Orten religiöser Anziehungskraft.
Aber es gibt eine Alternative. Zumindest für Menschen mit einem weiten religiösen, nicht unbedingt kirchlichen Hintergrund, aber mit einer Offenheit für lokale spirituelle Formen der Verehrung und einem Gespür für heilige Orte.
Lost places
Es gibt eine große globale Community von Menschen, die sich für sog. Lost Places interessieren. Sie suchen, finden und pilgern gleichsam zu Orten, die zwar eine außergewöhnliche, überregionale Bedeutung in ihrer jeweiligen Epoche hatten, aber im Laufe der Zeit aus dem öffentlichen Bewusstsein fast verschwunden oder heute schwer zu erreichen sind. Der Pegu-Club in Yangon oder die letzte Wohn- und Sterbestätte von Bruce Lee in Hongkong gehören exemplarisch zu diesen Wallfahrtsorten der besonderen Art.
Zu jenem Repertoire vergessener Orte gehört auch das sog. Berlin-Heiligtum oder besser bekannt als „German Girl Shrine“ auf der zu Singapur gehörenden Insel Pulau Ubin. Die Geschichte dazu ist legendenhaft, aber wie alle Legenden mit einem realen Kern verbunden. Kurz gefasst: Deutsche Auswanderer in Singapur wurden während des ersten Weltkrieges von der britischen Kolonialmacht interniert. Eine wohl aus Berlin stammende deutsche Familie, die dort eine Kaffee-Plantage betrieb, musste flüchten. Auf der Flucht stürzte deren Tochter unglücklich von einem Felsen in den Tod. Einheimische nahmen sich der Verstorbenen an und beerdigten sie. Da sie mit einem Kreuz um den Hals gefunden wurde, vermutete man einen christlichen Hintergrund.
Wunderbar
Und jetzt wird es wunderbar: In den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts pflegten chinesisch-stämmige Dorfbewohner das Grab. Anschließend hatten diese beim Spiel um Geld besonders viel Erfolg. Wie im asiatischen Kulturraum üblich, versucht man eine Kausalität zu finden zwischen Spielerfolg und den vermeintlichen Ursachen. Dieser Zusammenhang wurde schnell zurückgeführt auf die Grabpflege des „German Girl“, dessen Name allerdings im Staub der Geschichte verloren gegangen ist. Kurzerhand wurden Teile der sterblichen Überreste in eine Urne umgebettet, mit einem Kreuz geschmückt und zwecks besserer Verehrung in einem kleinen Tempel aufgebahrt. Siehe – geboren ward der Wallfahrtsort.
Bis auf den heutigen Tag gehört es für die, die darum wissen, zum guten Ton, dass man vor dem Besuch des Casions in Singapur zum German Girl Shrine pilgert, um dort Glück und reichen Gewinn erbittet. Man weiß ja nie … Einige schwören darauf, für andere gehört es einfach zum guten Ton. Nicht nur spielbegeisterte Chinesen pflegen diesen Brauch, selbst Thailänder verfallen dem Glauben an eine Kausalkette aus Gebet und Erfolg. Zunächst die himmlischen Kräfte im Berlin-Heiligtum beschwören und dann das Glück suchen in der Spielhölle. Wie nah doch immer alles beisammen liegt …
von Teddybär bis Nagellack
Eindrucksvoll auch die Opfergaben, mit denen das deutsche Mädchen beglückt, oder wenigsten beeindruckt werden soll. Vornehmlich alles Dinge, die ein junges Mädchen – jedenfalls in den Vorstellungen der Besucher – so braucht, wie da wären: Teddybär, Barbie-Puppen, Tannenbaum und Spielzeug. Wir entdecken eine Rassel und dann wird’s schon spannender: Heiliges Bier in kleinen Flaschen – wohl eher im Sinne der Alco-Pops -, und vor allem alles, was die Schönheit junger Damen noch besser zum Vorschein bringt: Nagellack, Lippenstift, Make-Up, Beauty-Accessoirs und – wohl typisch deutsch – jede Menge Hautcreme mit dem bekannten weißen Namen auf tief dunkelblauem Grund. „do ut des“ sagt der Lateiner – Wer was haben will, der muss vorher was geben.
Beim Besuch des Shrines geht mir vieles durch den Kopf: Eigentlich sind die großen renommierten Wallfahrtsorte und dieser, zumindest einem speziellen Klientel nicht ganz unbekannte Ort des Gebetes, inhaltlich nicht weit von einander entfernt.
Bei allen Wallfahrtsorten jeglicher Religion finden wir einen historischen Kern. Meistens verbunden mit einer heiligen Person oder einem Ereignis. Personell wie inhaltlich kommen schnell himmlische, übernatürliche Konnotationen dazu. Wie zum Beweis dafür geschehen Dinge, die man anscheinend nicht hinreichend erklären kann. Und schon ist es passiert: Man verbindet Person, Ort, Geschichte, Ursache und Wirkung mit den himmlischen Kräften.
Heiliger Ort
Peer, ein deutscher Botaniker aus Brisbane, den ich dort zufällig treffe, stellt mir genau diese Frage: „Ist das denn nun ein heiliger Ort?“ Ich will es nicht gleich verneinen und überlege, wie er es eigentlich meint. Heilig? Magisch? Verzaubert? Mystisch? Übernatürlich?
Ich erkläre ihm – natürlich ganz subjektiv – dass ich jenseits des religiösen Hintergrundes dieses Tempels glaube, dass ein Ort nicht aus sich heraus heilig ist. Kein Ort könnte groß und mächtig genug sein, um dem Gott oder den Göttern eine angemessene Wohnstätte zu bieten. „Der Ort mit seiner speziellen Geschichte ist zunächst der Anlass“, gebe ich ihm dann zur Antwort und führe weiter aus: „Menschen kommen hier her und beten aus welchem Grund und zu welchem Zweck auch immer. Dass Menschen über sich hinaus denken, dass sie wissen, dass nicht alles in ihrer Hand liegt; dass sie sich dem Universum, den Göttern oder einem Gott anvertrauen, sich also selbst als unvollkommen und schutzbedürftig einschätzen – das lässt sie über sich selbst hinaus wachsen.
Sie verstehen sich nicht selbst als das Maß aller Dinge. An solchen Orten wird man demütig. Man weiß sich als Teil des großen Ganzen, und verliert sich nicht zugleich in der Unbedeutsamkeit des Unendlichen. Wenn Menschen hier oder wo auch immer beten, dann binden sie sich zurück an den Grund, den Ursprung, auch an die ungewisse Zukunft, aber vor allem an den oder das, dem sie ihre Existenz verdanken. Rückbindung – das heißt auf Latein religio, also Religion. Nicht das Schicksal oder ein oder mehrere Götter heiligen den Ort. Es sind die Menschen, die hier beten. Und erst das macht den Moment und diese Stelle zu etwas Heiligem, weil sie das Göttliche hier verorten.“
Gesagt getan – wir beten hier auch, und ich lade dazu ein. Susu, eine japanische Polizistin aus Tokyo und Barbara aus Bangkok schließen sich ebenfalls spontan an. Wir beten für die Menschen in Singapur, für die, die nicht am grenzenlosen Reichtum Anteil haben, für die Opfer von Gewalt in Asien, aber auch für alle, die durch Unfälle ihr Leben verlieren. Auch wenn wir in einem taoistischen Tempel sind – wir haben alle den Eindruck, hier und jetzt am richtigen Ort zu sein.
Somit war der Ausflug doch zu einer Wallfahrt geworden. Auch wenn das Berlin-Heiligtum zu den Lost Places gehört, wir vier haben uns dort gefunden. Das war auch ein Wunder.
Ob das nun auch Auswirkungen hatte auf das Spieler-Glück? Ich weiß es nicht, habe ich doch anschließend einen großen Bogen geschlagen um das Marina Bay Sand Casino. Soweit reicht mein Vertrauen in wundertätiges Glücksspiel dann doch nicht.