Manila/Bangkok, 11.06.2019 – Die unzähligen, namenlosen Opfer des Drogenkrieges auf den Philippinen schreien zum Himmel. Die umstrittene Politik von Präsident Rodrigo Roa Duterte fordert tausende Tote. Die ambivalente Haltung der philippinischen Kirche macht sich den Präsidenten nicht zum Freund.
Pablo Virgilio Siongco David, seit dem 14. Oktober 2015 Bischof der Diözese Kalookan im Norden Manilas, lädt ein zum Gespräch. Er wartet mit einem Lächeln an der Haustür seiner wirklich bescheidenen Residenz, inmitten eines kleinen Vorgartens, den er selbst mit Hingabe pflegt. „Wenigstens etwas grün hier“, gibt er stolz zu in einer Stadt, die wie kaum eine andere einen ungeschminkten Eindruck vermittelt von Lärm, Schmutz, Gestank und Elend, vom monströsen Verkehr ganz zu schweigen.

Die Armut ist omnipräsent. Tausende Obdachlose versuchen, irgendwie über den Tag zu kommen. Verwahrloste Straßenkinder und Tagelöhner, desillusionierte Existenzen und Kranke fallen einem überall in den Blick. Des Nachts werden dunkle Ecken oder die wenigen freien Stellen zu Schlafplätzen, notdürftig geschützt mit, Wellblech, Pappkartons oder alten Plastikplanen. Selbst Kirchen mauern sich ein, um ungebetenen Übernachtungsgästen den Zugang zu geschützten Nischen zu verschließen.
Kill them all
Insofern gibt es in der Geschichte der Philippinen nichts neues. Die Städte ziehen alle an, die am Leben auch nur ein wenig Anteil haben wollen. Und wie immer: Armut und Kriminalität reichen sich brüderlich die Hand.
Kein Wunder, dass das lukrative Drogengeschäft auf den Philippinen blüht. Sie sind der Hauptumschlagsplatz für weltweite Lieferungen aus China und ganz Asien. Und selbstverständlich bleibt auch was übrig für lokale Konsumenten. Diese profitieren von einem durchorganisierten, bis zum Endverbraucher reichenden Verteilungssystem. Offizielle Stellen wie das Philippine Dangerous Drugs Board schätzen die Zahl der Abhängigen auf etwa 1,8 Million Endverbraucher (2015).

Präsident Dutere spricht 2016 von 3 Millionen, um seinen rigorosen Kampf gegen die Drogen populistisch zu untermauern. Natürlich findet er Zustimmung bei einer deutlichen Mehrheit – auch die Maßnahmen, die er dazu ergriffen hat: Die uneingeschränkte Erlaubnis zum Töten all derer, die mit Drogen handeln. Die letzten Wahlen im Frühjahr 2019 brachten seiner Partei einen weiteren großen Zuwachs.
In der Zeit von 1998 bis 2010 als Bürgermeister von Davao City machte er sich bereits einen Namen als unerbittlicher Kämpfer gegen Drogenhandel und -konsum. Die bewährten Mittel des Lokalpolitikers setzt er seit seiner Präsidentschaft national um.

Die sogenannten Ordnungskräfte haben das Recht zu töten. Es gibt Listen, auf denen Namen geführt werden von Menschen, die buchstäblich ins Fadenkreuz geraten. Ohne Denunziation ist das unmöglich. Ob nun aber all diese Namen auf diesen Listen tatsächlich Drogendealer sind, ist schwer zu bezweifeln.
Derrick Carreon, ein Sprecher der philippinischen Drogenkontrollbehörde (PDEA), sagte, nach offiziellen Angaben betrage die Zahl der im Drogenkrieg zwischen Juli 2016 und Ende November 2018 größtenteils durch die Polizei ums Leben gekommen Menschen 5.050.

Diese amtliche Zahl liegt weit hinter den Schätzungen von Menschenrechtsgruppen und Opferverbänden zurück, die von 12.000 bis 20.000 Toten sprechen. Viele der undokumentierten Morde wurden von „Todesschwadronen“ und inoffiziellen Milizen durchgeführt. Im Dezember 2018 sagte Chito Gascon, der Vorsitzende der philippinischen Menschenrechtskommission, dass die Zahl der Opfer bis zu 27.000 betragen könne, betonte jedoch, dass die Untersuchung der Todesfälle komplex sei, da die Polizei Aufzeichnungen über Antidrogenoperationen zurückhalte.
Man könnte vermuten, dass die Justiz sich mit diesen Morden beschäftigen müsste. Aber weit gefehlt – tatsächlich wurde nur ein einziger Fall untersucht und einer juristischen Prüfung unterzogen.
Einzelschicksal?
Das Schicksal des jungen Mannes, der hinter diesem besonderen Fall steht, führt mich in den Norden Manilas. Viele Friedhöfe habe ich gesehen, dienstlich oder privat, und an etwa 1800 Gräbern habe ich gestanden. Aber noch nie wurde mir ein Besuch verweigert – bis ich zum La Loma Cimetery im Norden Manilas kam.
Nur auf die persönliche Intervention Bischof Davids hin und unter schwer bewaffneter Begleitung der Sicherheitskräfte durfte ich dann doch das versteckt gelegene Grab von Kian Delos Santos besuchen, einem mit 17 Jahren von der Polizei ermordeten Schülers und nach deren Ansicht mutmaßlichen Drogenhändlers. Die widersprüchlichen Angaben zum Tathergang führten zur Untersuchung seines Todes.

Sein persönliches und soziales Umfeld, sein Lebenswandel und die Aussagen vieler Zeugen machten es unglaubwürdig, was die Polizei als Grund zur Ermordung und zum tatsächlichen Geschehen anführte. Weitere Zeugen, sowie die Aufzeichnungen der Videoüberwachung zeigten, dass es sich um einen willkürlichen Mord handelte. Die Beamten wurden entsprechend verurteilt. Leider ein buchstäblich einmaliger Vorgang.

Das tragische Schicksal dieses jungen Mannes legt die Frage nahe, ob dies ein trauriger Einzelfall gewesen sein könnte. Bei der erschreckenden Zahl von Tötungsdelikten durch Milizen, Schwadrone, Polizei und private Sicherheitskräfte lässt jedoch vermuten, dass es ein sich wiederholendes Muster gibt, dem nicht nur tatsächliche Dealer zum Opfer fallen, sondern auch Menschen, die willkürlich oder gezielt unter dem Deckmantel des Anti-Drogen-Kampfes ihr Leben lassen müssen.

Abgeordnete, Mitglieder von Menschenrechts- und Naturschutzvereinen, ja sogar drei Priester wurden ermordet. Der Hinweis auf Verstrickung in Drogengeschäfte rechtfertigt nicht nur deren Erschießung, sondern auch die Unterbindung jedes Aufklärungsversuchs.
Der Hurensohn
Hier kommt Bischof David ins Spiel. Er ist seit 2017 Vizepräsident der Bischofskonferenz der Philippinen und äußerte sich unmissverständlich zur Drogenpolitik des Präsidenten:
„Es gibt keinen Krieg gegen illegale Drogen, weil die Versorgung nicht gestoppt wird. Wenn sie wirklich nach illegalen Drogen suchen, dann sollen sie die großen Leute, die Hersteller, die Schmuggler, die Lieferanten suchen. Stattdessen suchen sie die Opfer. Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass dieser Krieg gegen Drogen illegal, unmoralisch und armutsfeindlich ist“.

Die Reaktion von Präsident Duterte folgte prompt: „Ich sage es Ihnen, David. Ich bin verwirrt darüber, warum Sie immer nachts ausgehen. Ich vermute, du Hurensohn, dass Sie illegale Drogen nehmen.“ Zugleich versuchte er, Bischof David in Misskredit zu bringen, indem er ihm vorwarf, Kirchgelder zu veruntreuen oder zu den Hintermännern einer Videokampagne gegen den Präsidenten zu gehören.
Bischof David bringt dies nicht aus der Fassung. Er verweist auf seine großartige Mutter, die dreizehn Kindern das Leben schenke, die alle außergewöhnliche Berufe ausüben zum Wohl des Landes und führt souverän aus: „Unsere Familie erwartet von niemandem in der Regierung eine Anerkennung für ihren (seiner Mutter) immensen Beitrag zum Aufbau von Nationen. Wir erwarten aber auch nicht, dass jemand ihr Andenken in den Schmutz zieht und sie eine Hure nennt. Das hat sie nicht verdient“.

Höhepunkt der Auseinandersetzung – die von Duterte ausgesprochene Morddrohung gegen Bischof David, die im Nachhinein zwar vom präsidialen Presseamt relativiert wurde, aber nun im Raum stand. Seitdem erhält er tatsächlich auf seiner privaten Telefonnummer Todesdrohungen. Paradoxerweise bietet der Präsident selber den Personenschutz an. Bischof David aber lehnt dankend ab.
Pastor Bonus
Für ihn waren dies alles bewegende Momente, die ihn bei seiner Arbeit als Bischof deutlich geprägt haben. Er lässt sich über ein privates Netzwerk unterrichten, wer in seiner Diözese den willkürlichen Morden wöchentlich zum Opfer fällt. Bei den betroffenen Familien meldet er sich persönlich. Auf Nachfrage bei einem seiner Diözesanpriester verweigerte dieser den Besuch bei der Familie eines Getöteten jungen Mannes. Diese Familie sei arm, so der zuständige Priester, und könne ihm seinen Besuch schließlich nicht bezahlen. Entsetzt ordnete der Bischof seinen Priester an, der Familie eine Spende zu machen. Das Sterbeamt werde er als Bischof dann selbst feiern – natürlich kostenlos.

„Früher war abends immer Rosenkranz angesagt. Dabei ging ich immer um meine Pfarrkirche herum. Diese Tradition setze ich fort – hier bei der Bischofskirche in Kalookan. Aber sofort war ich umgeben von Kindern, die hungern. Also kaufte ich im nächsten Laden Essen für sie. Seitdem besteht mein täglicher Rosenkranz aus Kindern, die wenigstens etwas zum Essen bekommen“.
„Mach das nicht! Die Kinder werden als Drogenkuriere benutzt. Nachher wird man dich deswegen anklagen können!“, raten ihm einige besorgte Kollegen, was Bischof David aber weder erschreckt noch von seiner Haltung abbringt.
Pastoral oder Plan?
Das an die Kathedrale angrenzende Gemeindezentrum hat er tagsüber geöffnet für Menschen, die einen geschützten Raum brauchen. Sanitäre Einrichtungen stehen zur Verfügung. Der lokale Musikverein übt auf dem Vorplatz und sorgt für etwas Harmonie in der lauten Stadt.

Die Welt wird er damit nicht retten können, aber zumindest ein Zeichen setzen für Menschen, die durch die Armut auch in Versuchung kommen, illegale Geschäfte zu betreiben.
„Ich weiß heute, wo mein Platz ist“, sagt Bischof David. Die unzähligen Pastoralen Pläne seiner Diözese seien alle gut gemeint, aber so lange sie nicht umgesetzt würden, wertlos.
Seine Sorge gelte den Armen und den Kranken. Die, die mit Drogen handeln oder sie konsumieren – sie alle litten an der Krankheit der Armut, Abhängigkeit, Verstrickung in das Böse. Bei ihnen sei etwas zerbrochen. Für sie sei er Bischof.

Ich unterbreche ihn in seinen Ausführungen und bitte um Entschuldigung für das, was mir durch den Kopf geht. Meiner Ansicht nach sei David kein Bischof, sondern vielmehr guter Hirte, was er umgehend kommentiert mit den Worten: „Absolut richtig!“ – wobei ja beides kein Widerspruch sein müsse.
Aber für ihn sind die Probleme und die Lebenswirklichkeit seiner Diözese, wie auch seine Erfahrungen so prägend, dass er andere Prioritäten setzen will, als man es vielleicht von ihm erwartet – auch in der Bischofskonferenz. Der Unterhalt von Rehabilitationseinrichtungen für Drogenabhängige ist nur ein Beispiel.
Kirche am Rand
Die Kirche in seiner Diözese erreiche sonntags nur einen Bruchteil der Menschen, führt Bischof David weiter aus. Anstatt neue Gemeinden zu gründen, hat er Missionsstationen in den Slums seiner Diözese eröffnet und sie mit Ordensleuten aus der ganzen Welt besetzt.

„Wir lernen die Armen aufgrund unserer Missionsstationen kennen. Dies sind keine Pfarreien, sondern die Kirche, die unter den Ärmsten der Armen anwesend ist, damit die Kirche zugänglich ist, damit die Kirche einen schnelleren Zugang zu den Armen und ihren Bedürfnissen hat. Unsere Missionsstationen sind wie neuer Wein, der die alten Schläuche zum Platzen bringt“, sagte er. „Papst Franziskus spricht immer wieder davon, an die Peripherie zu gehen, und das ist die perfekte Gelegenheit.“
Ein beindruckender, authentischer Bischof – er lebt, was er sagt und glaubt. Er ist zu einem Licht geworden in dem dunklen Sumpf seiner Diözese aus Armut, Drogen, Mord und Kriminalität. In ihm erkennen Menschen eine neue Hoffnung. Ein guter Hirt, der auch für seine Kollegen zum leuchtenden Vorbild werden könnte.