Hebt euch, ihr Tore!
Exegeten, jene Fachleute der Bibelauslegung, suchten schon seit frühester Zeit nach Prallelen, nach Vorausbildern der Handlungen Christi im Alten Testament. So wird Jona, der drei Tage lang im Bauch eines „Wales“ ausharren muss, in Beziehung gesetzt zu den drei Tagen der Grabesruhe des Herrn. Interessant wird nun dieses Verfahren, wenn aus dem reichen Fundus der biblischen Überlieferung eine uns völlig unbekannte und vielleicht auch in einem solchen Zusammenhang wunderliche Erzählungen präsentiert wird. Auf eine solche Brücke zwischen dem Alten und dem Neuen Testament wollen wir hin zum tieferen Verständnis von Ostern schreiten.
Eine der wohl beeindrucktesten Zeugnisse der mittelalterlichen Handwerkskunst ist der Verduner Altar im österreichischen Stift Klosterneuburg bei Wien. Der 1181 von Nikolaus von Verdun gefertigte Altar oder besser die von ihm gefertigten Emailplatten sind nicht nur kunsthistorisch bedeutsam, sondern bieten auch ein faszinierendes theologisches Programm. Ursprünglich, dies sei der Vollständigkeit wegen erwähnt, schmückten die Platten eine Kanzel, bevor sie in einen Altar eingesetzt wurden.
17 Spalten bestehen aus jeweils drei Reihen von Emailbildern: In der Mitte ist eine Szene aus den Evangelien dargestellt, über dieser Platte eine Szene aus dem Alten Testament vor der Zeit des Mose, d.h. vor der Zeit der Übergabe der Gesetzte am Gottesberg Horeb, und unter dieser Mittelplatte eine Szene aus der Zeit nach Mose. Bas Bild zur Auferstehung ist unten von Samson, der zwei Türflügel in den Händen trägt, eingerahmt.
Samson der Löwenbändiger
Ein Mann trägt zwei Türflügel einen Berg hinauf. Bei der Person handelt es sich um Samson, der von seiner Geburt an ein gottgeweihter Mann war und dessen Stärke legendär ist. So kennt jeder die Erzählung, dass Samson einen Löwen wie „mit bloßen Händen“ zerriss, „als würde er ein Böckchen zerreißen“ (Richter 14, 6). Nikolaus von Verdun hat jene Erzählung mit dem Löwen auch in sein Bildprogramm aufgenommen und parallel zur sogenannten Höllenfahrt Christi gesetzt.
Mit Höllenfahrt wird die Zeit der drei Tage des Grabes bezeichnet. Der Tradition nach stieg der Herr nieder in die Tiefen des Todesreichs und holte alle Menschen, die vor seiner Menschwerdung verstorben waren, heraus und begleitete sie in den Himmel. Wie Samson von der Kraft aus der Höhe und dem Geist Gottes regelrecht überschattet wurde und den Löwen auf dem Weinberg tötete, so hat auch Christus mit dem Tod gefochten und ihn „zerrissen“.
Unser Ausgangsbild ist aber nicht die Höllenfahrt Christi, sondern seine Auferstehung. Samson war auf dem Weg nach Gaza. Hinter ihm liegt nicht nur der Kampf mit dem Löwen, sondern auch die Hochzeit mit einer Philisterin aus Timna. Die Philister waren ein Volk, dass mit den schwächeren Israeliten im Krieg lag. Die Hochzeit und die nähren Umstände, die zu dieser führten, trugen nicht gerade dazu bei, die Beziehungen zu verbessern. Und so suchten die Philister, die in der Stadt Gaza lebten, Samson eine Falle zu stellen.
„Als Samson (eines Tages) nach Gaza kam, sah er dort eine Dirne und ging zu ihr. Als man den Leuten von Gaza berichtete: Samson ist hier!, suchten sie überall (nach ihm) und lauerten ihm [die ganze Nacht] am Stadttor auf. Die ganze Nacht über verhielten sie sich still und sagten: Wir warten bis zum Morgengrauen, dann bringen wir ihn um. Samson aber schlief bis gegen Mitternacht. Dann stand er auf, packte die Flügel des Stadttors mit den beiden Pfosten und riss sie zusammen mit dem Riegel heraus. Er lud alles auf seine Schultern und trug es auf den Gipfel des Berges, der Hebron gegenüberliegt.“ (Richter 16, 1-3)
Samson hob nicht einfach nur die Tore aus den Angeln, sondern mit diesen auch gleich die Posten und die Riegel. Bei einer Festung ist die schwächste Stelle der Verteidigung das Tor. Darum musste der Zugang zur Stadt oder zu einer Burg mit straken Holztoren, nicht selten mit Eisenbeschlag, gesichert werden. Der Riegel war sicherlich ein dicker Balken, der quer hinter dem Tor, teilweise in der Wand verschränkt werden konnte. Es sollten die Feinde zumindest sehr schwer haben, auf diesem Weg in die Festung einzudringen.
Samsons Feinde verstecken sich beim Torhaus, nach anderen Übersetzungen sogar im Torhaus selbst, denn der Platz am Tor war der Tummelplatz der Dirnen. Hier konnten sie dem Löwentöter problemlos auflauern, während er sich die Nacht hindurch mit einer Prostituierten vergnügte.
Fakten schaffen
Die Tat am Tag sollte Fakten schaffen. Tapferkeit und Ehre wären der Lohn der Gaziter. Aber es kam anders! Nur bis Mitternacht schlief der Gottgeweihte. Er überraschte seine Feinde und setzte seinerseits ein Zeichen: Gaza sollte ihn nicht festhalten können, die Stadt sollte nicht sein Grab werden. Das Tor stand offen. Es sollte nun dauerhaft offen stehen, denn mit samt dem Pfosten und dem Riegel beseitigte er die Schranke zur Freiheit.
Auch Christus erlag nicht der List des Feindes. Das Kreuz war ein Paukenschlag! Die Waffe des Teufels, mit der er den Sieg über den Sohn Gottes erringen wollte, richtete sich gegen ihn selbst. War er sich doch sicher, diesen Jesus damit vernichten zu können. Er konnte den Sohn Gottes nicht in Versuchung führen, aber er konnte ihn doch qualvoll sterben lassen.
Wie hat er sich doch geirrt! Das Totenreich sollte dem Herrn nicht zum Grabe werden, sollte ihn nicht einsperren und gefangen halten können. Kein Tor und keine Riegel sollten ihn halten können. „Ihr Tore, hebt euch nach oben, hebt euch, ihr uralten Pforten; denn es kommt der König der Herrlichkeit. Wer ist der König der Herrlichkeit? Der Herr, stark und gewaltig, der Herr, mächtig im Kampf.“ (Psalm 24, 7-8).
Samson war keine ganze Nacht im Bett der Dirne und seine Feinde lauerten ihm keine ganze Nacht auf, denn er überraschte seine Gegner, wie auch Christus den Satan überraschte: Nicht der Herr war der Gefangene, sondern der, der die Verstorbenen befreite und den Kerkermeister selbst einsperrte. Samson trägt die beiden Türflügel auf einen Berggipfel. Schon die Stadt Gaza liegt über 900 m hoch.
Scheinbar ist der Berg, den Samson wählt, nicht so wichtig, sodass man seinen Namen nicht überliefern musste. Es kann einfach praktische Gründe haben, warum der Torträger gerade einen Berg gegenüber dem Hebron-Berg bestieg, aber wir wollen auch hier eine theologische Deutung versuchen: Der Berg Hebron taucht öfter im Alten Testament auf und war eine wichtige geographische Marke. Er war u.a. auch der Grabesort der Erzeltern Sara, Abraham, Jakob und jeweils deren Söhne (vgl. Gen 23, 19; Gen 25, 9 und Gen 49, 30).
offene Stadt
Der Tradition nach hat Christus während der drei Tage seines Todes symbolische für alle Menschen aus dem Totenreich geführt, die bis seiner Menschwerdung entschliefen. Zu diesen zählten auch die Erzeltern. Die Tür, die bildlich gesprochen, die Verstorbenen vom Leben im Himmel trennte, wurde im Glanze Christi regelrecht weggesprengt. Und so trägt auch Samson den Türflügel weit weg, unerreichbar für die Bewohner von Gaza und in befreiender Entfernung zu den Erzeltern.
Auch das himmlische Jerusalem kennt keine geschlossenen Tore (Offenbarung 21, 25)! Die Stadt ist offen, damit jeder herein kann, bei Tag und bei Nacht, denn es gibt keinen Feind mehr. Es ist wie schon der Völkerapostel Paulus ausrief: „Verschlungen ist der Tod vom Sieg. Tod, wo ist dein Sieg? Tod, wo ist dein Stachel?“ (1 Korinther 15, 53-55).
Samson schließlich starb auf eine grausame Weise. Alle Stärke und List konnten ihn nicht im Leben halten. Auch er musste zu seinen Väter in die Tiefe hinabsteigen, bevor er die Stimme Christi hören durfte. Vertrauen auch wir, dass wir die Stimme Christi hören dürfen und mit allen, die vor uns schon gestorben sind, einst Gott loben dürfen von Ewigkeit zu Ewigkeit.
Frohe und gesegnete Ostern wünscht Ihnen – auch im Namen von Pfarrer Dunsbach
Ihr Christoph Herr, Gemeindepraktikant