Religionen und Mythos auf Java

Religionen und Mythos auf Java

Inkulturation und Identifikation

Dek Rama und Dek Rdit wundern sich nicht mehr über die Touristen, die beim Sonnenuntergang zum Lava View Point kommen. Dennoch bleiben sie neugierig und suchen schnell mit den Fremden das Gespräch, soweit das die Verständigung zu lässt. Mas Kiki, ein Reiseführer aus Yogyakarta hilft freundlicher Weise beim Übersetzen.

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Die beiden 10jährigen Jungen sind stolz, sich mit dem Motorrad aus ihrer kleinen Siedlung am Rande der Caldera des Mount Bromo durch die allgegenwärtige Vulkan-Asche zu kämpfen, haben sie doch westlichen Kindern damit so einiges an Abenteuer voraus. Sie pflücken wilde Mentiki-Früchte von den Bäumen – eine Art hochgewachsene Blaubeerenart – und reichen sie den Ausflüglern, die sich damit das Naturschauspiel vor der Kulisse des ständig aktiven dampfenden Kraters noch versüßen können.

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Beide gehören zur ethnischen Minderheit der Tengger. Eine Volksgruppe, die seit Jahrhunderten an den fruchtbaren Hängen des Bromo-Tengger-Massivs im Osten Javas siedelt. Sicher kennen die beiden Kinder die mythische Entstehungsgeschichte ihres Volkes, die eng mit dem Vulkan verbunden ist. Doch dazu später mehr.

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Religions-Tour durch Yogya

Mythos, Geschichte, Tradition, ursprüngliche und aktuelle Religionen prägen Indonesien seit je her. Unzählige Inseln erstrecken sich von Sumatra bis fast vor die Küsten der Philippinen und Australiens, von denen Java und Bali zu den noch bekanntesten zählen. Nach der verheerenden Erdbebenserie Mitte 2018 rückten auch das eher unbekannte Lombok und Sulawesi in den Blickpunkt der Weltöffentlichkeit.

Geeint als Nation in der gemeinsamen indonesischen Sprache haben aber alle Inseln ihre eigenen Dialekte. Mbak Tina mit extravagantem Ohrenpiercing und Mbak Sophia mit gebatiktem Kopftuch – beide Ende Zwanzig und fachkundige Reisebegleiterinnen einer javanischen Touristenagentur – begleiten die deutschsprachigen Seelsorgerinnen und Seelsorger aus Indien, Australien und Asien während der Kleinen Konferenz durch Yogyakarta.

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Beide jungen Frauen lassen die interessierten Konferenzteilnehmer zunächst im Unklaren über Ihre persönliche religiöse Identität, erzählen aber begeistert, dass die vielen Dialekte Zeugnis geben von einer tausende Jahre zurückreichenden Siedlungs- und Kulturgeschichte des Inselarchipels, das mehr oder weniger von Stämmen und sich später entwickelnden Klein-Königreichen geprägt war.

„In Indonesien“, so erklärt Sophia zur zeitgenössischen Situation, „gibt es heute 5 reguläre Religionen: Islam, Hinduismus, Christentum, Buddhismus und Konfuzianismus. Jeder muss sich zu einer dieser Religionen zwingend bekennen, was auch im Pass eingetragen wird.“ Offiziell ungläubig oder atheistisch zu sein, das ist absolutes „no go“.

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Unter der Oberfläche

Wer sich nicht ganz klar ist, der entscheidet sich aus taktischen Gründen besser zum Islam, zumindest dem Eintrag im Ausweis nach. Kein Wunder, dass Indonesien den größten islamischen Bevölkerungsanteil weltweit hat.

„Aber das ist nur die offizielle Sicht der Dinge. Sicher gibt es gerade im Norden Sumatras in Banda Ache ein sehr strenges Handhaben der Sharia, oder tief im Osten Indonesiens, aber im Großteil Javas und anderen Inseln ist der Islam noch tolerant“, erklären beide jungen Damen mit einem erleichterten Lächeln.

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Die großen und kleinen Sunda-Inseln haben mehrere Missionswellen über sich ergehen lassen, die über die See-, Schifffahrts- und Handelswege nach Indonesien gelangt sind. Nach dem Hinduismus der Buddhismus, danach das Christentum und letztlich der Islam.

Alle Religionen fanden aber bereits Menschen vor, die ihre eigenen ursprünglichen Religionen pflegten. „Wir sprechen dann von Animismus und Dynamismus“, sagt Sophia. Darunter versteht man die Beseelung, die Personifizierung der Natur. Ein Weltgeist umschließt alles und äußert sich in Geistern und Dämonen, die Besitz ergreifen von z.B. Pflanzen, Tieren, Orten, Bäumen oder Quellen. Das ist der natürliche Urgrund transzendentalen Bewusstseins und der Nährboden, auf dem sich Traditionen, Rituale, Zeremonien, persönliches Gebet und Opfergaben manifestieren, um schließlich ungetrennt und unvermischt mit den offiziellen Religionen eine Liaison einzugehen.

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Mehr bringt mehr

Tina ist ganz begeistert, wenn sie davon erzählt, wie gerade in Java auf diesen ursprünglichen Boden zurück gegriffen wird, und alte Bräuche und Traditionen in die jeweilige aktuelle Religion wie selbstverständlich mit einfließen. Eine ganz besondere Melanche, wenn man zum Beispiel nach dem Gebet in der Mosche oder der Kirche auch noch den alten Geistern Opfergaben bringt oder etwa um gutes Glück bei der Partnerwahl bittet. „Man weiß ja nie“ und „mehr nützt mehr“ – so könnte das polytheistische Credo heißen. Eine spezifisch javanische Form spirituell-religiöser Inkulturation.

Es gibt also eine tiefe Verwurzelung offizieller Religionen in einem Urgrund, der weit zurück reicht in der Geschichte Javas und vieler anderer Inseln entlang es südasiatischen Äquators.

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Man muss sich nicht anstrengen um zu erraten, dass sich Mbak Tina genau dieser alten Religion sehr verbunden weiß. Sie lebt als moderne, aufgeklärte junge Frau. Dennoch hat sie die alten Traditionen in ihrer Familie gelernt, verinnerlicht und pflegt sie auch in Zukunft.

Sie gibt dies auch gerne weiter an religiös interessierte Reisende und Touristen, aus rein pädagogischen Gründen. Aber auf die Frage, ob sie dies nicht als Lehrerin den jungen einheimischen Menschen weitergeben möchte, antwortet sie sehr selbstbewusst: „Das müssen die Familien unter sich aus machen. Das ist deren Sache“. Die Beziehungspflege zu den Geistern ist anscheinend eine sehr persönliche, innere Angelegenheit.

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Aber sie lässt uns teilhaben an den Düften und Formen der noch schnell am Straßenrand gekauften Opfergaben, die man den Geistern übereignet. Blumen, Farben, Weihrauch und Zusammenstellung der Blüten haben sich selbst erklärende Bedeutung.

Die beiden Rosen in den archetypischen Farben: rot für die Frau und weiß für den Mann (übrigens die beiden Farben der indonesischen Nationalflagge); die nur nachts blühende, betörend riechende und für den Schutz stehende Bunga Sedap Malam (Blume der köstlichen Nacht); der die Reinheit symbolisierende Jasmin und der reinigende Duft des Weihrauchs.

Nahe eines hinduistischen Temples und zu Füßen eines mit bunten Bändern und Tüchern geschmückten heiligen Baumes, zeigen die beiden Damen in situ, wie diese Opfergaben dargebracht werden. Tina ganz in ihrem animistischen Element und Sophia als Muslima wie selbstverständlich mit dabei. Buchstäblich eine unglaubliche Symbiose von altvorderer Tradition und zeitgenössischer Religion, die man so nicht unbedingt erwarten würde. Welcher Geist auch immer in diesem heiligen Baum wohnt – er wird sicherlich darüber schmunzeln können.

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Schlüssel zum Verständnis

Hier wird deutlich: Das Wesen der Tradition ist der Schlüssel zum Verständnis Javanischer Kultur. Tradition schafft Identifikation, mehr noch als die offizielle Religionszugehörigkeit. Das Bewahren und sich Erinnern an die alten Geschichten, die Überlieferungen und Bräuche, die Inszenierungen der Zeremonien – das alles ist die Nabelschnur, die aus der Vergangenheit hinüber reicht in die Gegenwart; die den ethnischen Gruppen auf Java ihr Gesicht gibt, ihnen Selbstbewusstsein, Identität und Zusammenhalt verleiht.

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Tief im Osten

Eine Flugstunde von Yogyakarta entfernt in der Provinz Probolinggo sitzen auf fast 3000m Höhe, von Kälte, Wind und Sonne gegerbt, zwei Männer beim Abendessen. „Wir bewahren unsere Traditionen“, sagen übereinstimmend Jono (37) und Andi (27), zwei Brüder, glückliche Väter und üblicherweise ohne Familiennamen. Zusammen besitzen sie ein kleines Homestay und zwei Jeeps, mit denen sie die Touristen halsbrecherisch durch die Aschewüste des Bromo eskortieren und zum Morgengrauen die steilen Straßen hinauf zu den beliebten Aussichtspunkten des Vulkans wuchten.

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Sie gehören zur Volksgruppe der Tengger – was typischerweise so viel heißt wie: die zusammen halten und auf dem Berg wohnen. Wie passend für eine ethnische Gruppe, die die überaus fruchtbaren vulkanischen Hänge des Bromo-Massivs bewohnt.

Man muss sie nicht lange bitten, bis sie mit leuchtenden Augen zunächst ihre eigene, gesicherte Geschichte erzählen. So dann die sich im Mythos verlierende Herkunft ihres Volkes, wo es um Liebe, List und Riesen, selbstloses Opfer und Hingabe geht; und natürlich auch, warum die Tengger nicht Brahma, sondern Shiva verehren.

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Als das hinduistische Königreich Majapahit im Norden Javas im frühen 16. Jahrhundert unter den Einfluss des moslemischen Sultanates Demak kam und von diesem erobert wurde, flohen viele Angehörige der hinduistischen und königlichen Oberschicht in den Osten Javas bis auf die Insel Bali. Einige strandeten auf diesem Weg an den einsamen Hängen des Bromo, fanden ein ertragreiches Land und gemäßigtes Klima, siedelten sich dort an und bekannten sich weiterhin zum Hinduismus, gaben ihm – wie auch auf Bali – ein eigenes kulturelles Gesicht, sagten sich allerdings vom klassifizierenden Kastenwesen los.

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Liebe, List und Riesen

Die trockene Geschichte wird natürlich von der Legende facettenreich ausgeschmückt. Nachfahren der königlichen Familie aus Majapahit wurde im Schatten des Bromo eine Tochter geschenkt, die schon als Baby wegen ihrer ruhigen Natur die Stille Prinzessin (Roro Anteng) genannt wurde. Zugleich bekam ein Brahmanenpaar aus dem gleichen Dorf einen Sohn, Joko Seger – der Frischgesichtige. Die Liebe ließ natürlich nicht lange auf sich warten. Alle Bewerber konnte Roro aber abwehren, bis auf einen: Den Riesen Kyai Bima. Zwar wollte sich Roro diesem aus Angst nicht gleich versagen, versuchte aber durch eine unmögliche Prüfung, das Werben des Riesens zu beenden. Er solle über Nacht einen See auf dem Berg ausheben.

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Dies schien dem Riesen mit einer ebenso großen Grabschale tatsächlich zu gelingen. Roro musste schnell handeln. Sie ließ zur Mitternacht durch List dem Riesen das Morgengrauen ankündigen. Die Dorfbewohner entfachtem im Osten ein Feuer aus Reisstroh und die Frauen begannen mit dem morgendlichen Reisstampfen. Scheinbar vom Morgen überrascht, ließ der Riese frustriert die Schale liegen, den halb ausgehobenen See hinter sich zurück und alle Hoffnung auf die süße Braut fahren. Sein halbvollendetes Werk ist heute noch zu bewundern: der erloschene Kegel des Batok und daneben der tiefe Schlund des Bromo.

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Der Vermählung von Roro Anteng und Joko Seger stand nun nichts mehr im Wege. Doch nach langer Kinderlosigkeit versprach Joko den Göttern, dass er eines von seinen 25 erhofften Kindern Brahma (Bromo!) opfern und in den Krater werfen würde. Natürlich half der Gott. Und noch selbstverständlicher vergaß der Vater schon vor der Geburt des 25. Kindes sein Versprechen. Deshalb kommt jetzt Shiva ins Spiel.

Sie, die Zerstörerin, ausgerechnet sie muss in der Erscheinung als Göttin Dewa den vergesslichen Vater schmerzlich erinnern. Die Konsequenzen des Wortbruchs wären Tod und Vernichtung, Shivas Kernkompetenz. Angesichts eines permanent aktiven Vulkans in der Nachbarschaft nicht ganz von der Hand zu weisen. Kurzum: Die schwierige Entscheidung wird dem Vater abgenommen, als sich der jüngste Sohn Jaya Kusuma zum künftigen Wohle seiner Eltern und seines Volkes freiwillig als Selbstopfer in den Krater stürzt – verbunden mit dem Wunsch, einmal im Jahr ihm selbst die Früchte der Erde zum Opfer zu bringen, nämlich beim Vollmond des hinduistischen Kasadha-Monates. Man sagt, beim Hinabstürzen sei auf seinem Gesicht keine Furcht gewesen. So wurden aus Roro An-TENG und Joko Se-GER die Stammeltern des Volkes der Tengger.

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„Das ist unsere Tradition“, unterstreicht Jono noch einmal voller Stolz. Beim Kasadha-Fest ziehen die Tengger zum Bromo und opfern traditionell in Erinnerung an das Selbstopfer des Kindes ihrer Stammeltern. „Aber wir beten nicht zu Brahma. Das tun die Balinesen, die hierher kommen, um am Bromo zu Brahma zu beten. Oder zu Ganesha. Wir Tengger beten zu Shiva“. Somit kann man auch verstehen, warum der Tempel am Fuß des Kraters ein unspezifischer, All-In-One-Tempel ist. Jeder kann dort zu welchem Gott auch immer beten – ein neutrales Passpartout-Heiligtum.

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Im Original immer am besten

„Aber wir treffen uns jedes Jahr zum Kasadha-Fest am Vulkan“, ergänzt Andi stolz. „Daran halten wir fest. Wir sind Tengger von Geburt aus. Land bekommt kein Fremder. Das gehört uns. Wer hier einheiratet, der muss unsere Religion annehmen und sich an unsere Traditionen halten. Tengger halten zusammen und bewahren die Tradition. Das sagt auch unser Oberhaupt: Das Original ist immer das Beste“.

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Oberhaupt der Tengger ist der Pak Supoyo. Er zeichnet sich aus durch Weisheit, Lebenserfahrung, Liebe zur Tradition und hinduistische Frömmigkeit. Gewählt, bzw. im Amt bestätigt wird er jährlich basisdemokratisch beim Kasadha-Fest. „Wir haben auch keine Angst vor anderen Religionen, auch nicht vor all dem Neuen in der Welt. Unser Oberhaupt weiß, dass die junge Generation viel aus dem Internet weiß. Aber er sorgt dafür, dass die Jungen wie die Alten an der Tradition festhalten“, sagt Jono, der vom aufstrebenden Tourismus sich und seine Familie gut ernähren kann. „Wir wünschen uns eine friedliche Region, frei von den vielen anderen politischen Unruhen. Wir wünschen uns, dass unser Pak Supoyo für uns und unsere Familien sorgt“. „Und ich wünsche mir ewige Jugend!“, fällt abschließend Andi seinem älteren Bruder ins Wort.“

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Von der Jugend träumen Dek Rama und Dek Rdit nicht. Jene erleben sie gerade. Unbeschwert, aber nicht unkontrolliert. Ein überraschender Anruf der Eltern auf ihrem Handy ordert sie zurück. Auf ihrem geländegängigen Motorrad meistern sie gekonnt die Tücken der schlüpfrigen Asche und verlassen die im Sonnenuntergang stehende spanisch-indonesisch-deutsch-kanadisch-australisch-französisch-thailändische Touristengruppe und suchen in der Dämmerung zwischen den Mentiki-Bäumen ihr Elternhaus.

Vielleicht träumen sie heute Nacht noch von Vätern, die merkwürdige Versprechen geben, oder von Riesen und Göttern. Und wer weiß, … wenn sie die Traditionen bewahren werden, ob aus ihnen in Zukunft nicht einmal das Oberhaupt der Tengger wird?

von Adinda Nungky Pengasuh und Jörg Dunsbach

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