Schön-Form-Betrachter

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Kaleidoskop Bangkok

Dass David Brewster im 19. Jahrhundert beim Untersuchen von doppelbrechenden Kristallen ein Spielzeug erfunden hat, und was das mit Bangkok zu tun hat – das erfahren Sie heute.

Vorher aber eine Frage: Hatten Sie denn schon einmal ein ASMR? Das ist nichts unanständiges und leider lässt es sich auch nicht so richtig ins Deutsche übersetzen. Gemeint ist eine sog. „Autonomous Sensory Meridian Response“. Dieses Gefühlt – ein Kribbeln, das sich unverhofft vom Kopf aus über den Nacken bis zur Wirbelsäule ausbreitet. Meistens ein gutes Gefühl, das hervorgerufen wird durch sog. „Trigger“, d.h. Auslöser: manchmal akustisch oder taktil, manchmal optisch.

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Ich hatte so etwas zuletzt bei der Heimfahrt von der Schule, zusammen im Auto mit meinem evangelischen Kollegen. Hoch auf dem Highway Bangna Trat tat sich plötzlich die glasklare Skyline Bangkoks vor uns auf. Im rechten Licht erstrahlten die Hochhäuser in ihrer synkretistischen Komposition wie zum Greifen nahe. Sie erweckte bei uns beiden dieses unvergleichlichen Staunen. Die Ästhetik rhapsodischer Architektur, die im Panorama einen Reiz ausübt, dem man sich kaum entziehen kann. Das war mein Trigger.

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Viel mehr als nur Gänsehaut – viel eher ein Kribbeln vom Kopf bis in die Fußspitzen, was mich zu der aus tiefem Herzen kommenden Äußerung hinriss: „Jetzt sind wir schon so lange hier, und es ist immer wieder wie ein wohliger Schauer, sich plötzlich bewusst zu werden, dass wir mitten in Asien in dieser Großstadt leben und arbeiten dürfen“. ASMR.

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Vielleicht hatte David Brewster ein ähnliches Erlebnis, als er bei der wissenschaftlichen Beobachtung des Brechungsverhaltens von Kristallen in einer Spiegelröhre auf eine unerwartete Farben- und Formenvielfalt stieß. Kurzerhand meldete er seinen adaptierten Versuchsaufbau als Patent an und wurde reich mit der Erfindung des Kaleidoskops, eine griechische Wortkomposition, die soviel heißt wie: Schön-Form-Betrachter. Wie passend!

Bangkok als Kaleidoskop

Mein Kaleidoskop ist Bangkok. „Schaut auf diese Stadt!“ – möchte ich mit Ernst Reuter sagen und habe doch so viel mehr vor Augen, als die deutsche Bundeshauptstadt. Je nach Licht, nach Tages- oder Nachtzeit, je nach Perspektive und Winkel ergeben sich Farben, Formen, Ein-, Über- und Ausblicke, die nie gleich, sondern immer wieder anders, variiert, unwiederholbar, einmalig und einzigartig sind. Ich versuche, sie zu beschreiben mit Hilfe optischer Wellenphänomene, die dem Kaleidoskop wesentlich seinen Reiz verleihen.

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Reflexion

Unter Reflexion versteht man das Zurückwerfen von Wellen an einer Grenzfläche.

Einfach zu erleben, wenn man sich in mitten der Häuserschluchten aus glas- und chromverspiegelten Skyscrapern, Shopping Malls, Hotels und Bürotürme herum treibt. Fast wie in einem Spiegel-im-Spiegel erlebt man das Gefühl unendlicher Reflexion bei gleichzeitiger Enge. Himmel, Straßen, Umgebung, man selbst – man ist zugleich gefangen in dieser Stadt und frei.

Weite ergibt sich aus den großen Linien der Ring- und Ausfallstraßen, den zum Teil verzerrten Abbildern der Spiegelfassaden und mitten drin der Beobachter, der überwältigt ist von der Großartigkeit moderner Architektur, wobei die Schönheit ja bekanntlich immer im Auge des Betrachters liegt.

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Erblickt man sich selbst jenseits narzisstischer Eitelkeit in einem der vielen spiegelnden Fenster oder beim Vorbeifahren mit der BTS an den reflektierenden Häuserfronten, so erschrickt man über die Erhabenheit um einen herum und droht, sich mit der eigenen Kleinheit und Unbedeutsamkeit in der Vielfältigkeit dieser Stadt zu verlieren.

Dabei hilft kein GPS oder Google Maps. In diesem spiegelnden Irrgarten muss man seinen Weg finden. Nur wer über autistische Begabung verfügt, kann in der Lage sein, all diese Eindrücke und Informationen, die auf einen einstürmen, zu verarbeiten. Für viele ist diese Stadt daher auch eine Überforderung, sprengt sie doch jeden Horizont und ist buchstäblich unfassbar. Man braucht einen Filter im Kopf, der nur das durch lässt, was man ertragen, erfassen und verarbeiten kann.

Absorption

Unter Absorption versteht man die Verringerung des Durchgangs einer Welle durch einen Stoff.

Also ein Filter. Wer hier lange lebt, der filtert aus den unendlichen Möglichkeiten dieser Stadt jenes heraus, was zu viel Zeit, zu viel Kraft oder Energie kostet. Zu Fuß? Lieber mit dem Motorrad. Zu weit weg? Lieber mit der BTS. Mit dem Taxi? Lieber zu Hause bleiben, weil zu viel Stau. Hier greift sogar im alltäglichen Leben das Prinzip der minimalen Wirkung: Mit möglichst wenig Kraft das größtmögliche Ergebnis zu erreichen.

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Apropos Stau: Was verliert man nicht an Zeit beim Stop & Go? Diese Stadt hat einen hohen Absorptionsgrad – frisst sie einem doch Lebenszeit weg wie ein gefräßiges, unersättliches Raubtier. So viel Zeit die ungenutzt vergeht, indem man einfach versucht, von A nach B zu kommen, was ohnehin nie so einfach geht. Kein Wunder also, dass zunehmend viele Stadtbewohner sich selbst einen Filter vor den Mund setzen, um halbwegs unbeschadet der Feinstaubdusche in den Straßen zu entgehen, um sich danach dem steril-kalten Luftschwall der nächsten Aircon auszusetzen.

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Verständlich, wenn Einwohner Bangkoks nach langer Zeit sich meistens nur noch in ihrer eigenen Gegend aufhalten. Dort also, wo man alles hat, was man braucht und jede Anstrengung überflüssig wird, weil allein schon das Abwägen zwischen Aufwand und Ergebnis schnell der eigenen Bequemlichkeit zum Opfer fällt.

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Bangkok besitzt viele dieser Eigenfilter. Jede Shopping Mall ist ein Paradebeispiel der Präsentation grenzenlosen Glücks und gelungenem Leben, wie es in der Wahrnehmung der Menschen implementiert werden soll. Herausgefiltert wird alles, was nicht erstrebenswert erscheint. Durchgelassen werden nur Bilder von hellhäutigen Zeitgenossen, die ihr Glück darin finden, das zu kaufen, was anscheinend glücklich macht und dem vornehmlich in Asien vorherrschenden Mode- und Schönheitsideal entspricht. Unbewusst wird dies zur erstrebenswerten Versuchung, dem viele erliegen. Eine Fassade, die jeden Makel absorbiert.

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Um sich diesem Filter zu entziehen, muss man schon an die Randgebiete der Stadt fahren, oder nach Klong Toey, oder auf dem Boot über den Klong Saen Saep durch den Bauch der Stadt fahren. Dort erlebt man einen ungefilterten Eindruck Bangkoks, und zwar für alle Sinne, nicht nur für die Augen. Auch das gehört dazu, verstärkt dieser kontrastreiche Einblick doch das Gesamtbild dieser Metropole, lässt die Kanten und Ecken besser wahrnehmen und bietet ein differenziertes und ungefiltertes Wahrnehmen städtisch-asiatischer Wirklichkeit, die in ihrer Gänze kaum zu erfassen ist.

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„Es ist vor allem der Kontrast zwischen bebauten Flächen und grünen Oasen, sowie die Vielfältigkeit internationaler Kulturen“, sagt Hardy, ein deutscher und häufiger Besucher Thailands, und seine Ehefrau Martina pflichtet ihm bei: „Wie Alice im Wunderland der Kabelstränge“.

Polarisation

Unter Polarisation versteht man – einfach ausgedrückt – die Durchlässigkeit eines Stoffes für ganz bestimmte Ausrichtungen einer Welle.

Schon allein die Namensnennung dieser Stadt ruft Fantasien auf den Plan. Das hat was mit Klischees zu tun. Was hört man nicht alles von Besuchern, die zum ersten Mal nach Bangkok kommen? Sie haben eine ganz bestimmt Vorstellung im Kopf, die sich aus Erzählungen, Medienberichten, Eigenvorstellungen, Erwartungen und Wünschen einstellt. Ein Bild, das sich bei ihnen festsetzt und schließlich mit der Wirklichkeit zusammen prallt.

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Die einen sehen alles genau so, wie sie es erwartet haben. Die anderen sind maßlos enttäuscht, weil nicht viel von dem übrig bleibt, was sie sich erträumt haben. Das findet man im Kleinen bei Urlaubern, wie auch im Großen bei Auswanderern. Überschwängliche Euphorie bei den einen – abgrundtiefe Desillusionierung bei den anderen. Und wer von beiden hat jetzt recht? Wahrscheinlich beide! Und die Wahrheit liegt irgendwo dazwischen.

Es kommt mal wieder auf die Perspektive an – also auf den Blickwinkel und die innere Grundhaltung – unseren persönlichen Wahrnehmungscode, wie die Wirklichkeit erfasst wird. Selektiv oder umfassend, unvoreingenommen oder fokussiert, offenen Geistes oder vorurteilshaft.

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Wie bei Verschwörungstheoretikern wird die Idee, die man von der Stadt hat, selektiv genährt von den erwarteten Tatsachen. Nur diese finden den Weg in den Verstand. Alles andere, gegenteilige wird ausgeblendet. Genau so bei denjenigen, die alles ganz toll finden und die Augen verschließen vor den vielfältigen Abgründen, die diese Metropole auch zu bieten hat.

Sicher würde es helfen, wie beim Fotographieren einen zirkularen Polarisationsfilter zu benutzen. Je nach variabler Stellung filtert er eine bestimmte Wellenlänge heraus oder lässt sie eben durch. Mit dieser – im übertragenen – flexiblen Geisteshaltung wäre vielen schon geholfen. Dann ist eben nicht alles nur gut und nicht alles nur schlecht. Wenn man also den Winkel der Betrachtung ändert, ergeben sich unterschiedliche Eindrücke und Bewertungen, die im Zusammenspiel eine Sinfonie von Erfahrungen erlebbar machen, die genau dadurch zum Klingen gebracht wird, dass es Harmonie, Dissonanzen, Spannungen, Auflösungen und dynamische Unterschiede gibt. Am Ende ein buntes und kontrastreiches Zusammenspiel. Das kommt der Wirklichkeit schon ziemlich nahe.

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Schöne Dinge betrachten

Ist Bangkok also ein asiatischer Schöne-Dinge-Betrachter? Oder anders gefragt: Ist Bangkok schön? Ich weiß es nicht. Manchmal stellt sich genau das gegenteilige Empfinden bei mir ein. Aber die Hauptstadt von Thailand hat einen hohen Grad an Ästhetik. Dieses Wort kommt auch aus dem griechischen und bedeutet Erkenntnis. Und ja – in diesem Sinne ist das alt-ehrwürdige Krung Thep Maha Nakhon ästhetisch.

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Diese Stadt vermittelt die Erkenntnis, dass das Leben aus so vielen Wellenlängen der Menschlichkeit bestehen kann, die reflektiert, absorbiert und polarisiert werden können: bunt, grau, schwarz-weiß, schillernd, facettenreich, abstoßend und anziehen, schön und hässlich zugleich, überraschend, unersättlich, ermüdend, motivierend, sprachlos, euphorisch, desillusionierend, laut, verstummend und überschwänglich: Genau so schillernd und kontrastreich, niemals sich wiederholend und einzigartig, eben wie der Blick durch ein Kaleidoskop. Wer also mit offenen Sinnen Bangkok erlebet, erduldet, genießt, bewundert und erträgt, dem wird sicher des Öfteren noch ein wohligen Schauer über den Rücken laufen.

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